Dienstag, 8. Juli 2008

Traumbilder

hallo,
 
wir alle träumen - vermutlich jede Nacht, aber wir merken uns die Träume nicht immer. Vermutlich gelangen sie nur dann ins "wache" Gedächtnis, wenn sie besonders intensiv waren - entweder mit beängstigendem Hintergrund (so daß man aus Angst aufwacht) oder weil der Wecker klingelt, während man grade am Träumen ist.
 
Es scheint ein großes Problem damit zu geben, einen Traum zu "erzählen". Im Traum passieren ja allerhand unlogische Dinge. Zeit und Raum gelten da nicht, man kann zum Beispiel fliegen (naja, manchmal), oder man ist nahezu gleichzeitig an zwei geografisch völlig verschiedenen Orten. Hat jemand von euch mal versucht, irgendeinen besonders eindrucksvololen Traum zu _erzählen_? So daß ein anderer wenigstens ungefähr verstehen kann, was das für ein Traumbild war?
 
Ich gebe mal ein Beispiel:
Ich stehe am Rand eines Hanges. Gegenüber Berge; es sind die Hörselberge bei Eisenach. Unten im Tal rote Ziegeldächer, aber die Häuser stehen in langen schnurgeraden Reihen, und als ich den Kopf langsam wende, um zu sehen, wo die Reihen zu Ende sind, sehe ich links die gesamte Gegend von Nebel überwuchert. Oben aber, über dem Nebel, unter dem ich die roten Ziegeldächer nicht mehr sehen kann, obwohl ich gewiß bin, daß es sie gibt, leuchtet das Sonnenlichtkreuz des Berliner Fernsehturms. Ich stehe höher als der Fernsehturm auf der anderen Seite, was mich eine Sekunde lang befremdet. Macht aber nichts.
Vor meinen Füßen ein unerwarteter trockener, zischender Laut. Ich bücke mich, ein gefiederter Pfeil steckt im Erdreich zwischen meinen Füßen. Merkwürdig ist, daß ich meine Füße gar nicht sehe, aber einen moosüberwucherten Hügel, und im Moos stecken, deutlich erkennbar, mehrere junge Steinpilze. Zwischen ihnen der Pfeil, an dessen Ende ein daumenstarkes Seil befestigt ist, auf dem eine Scheibe aufrecht angebracht wurde. Deren Rand ist mit einer rundum laufenden Nut gekerbt, es sieht aus wie ein Rad, auch gibt es im Mittelpunkt der Scheibe ein Kugellager, in das, nach rechts und links mit Handgriffen herausstehend, ein Metallstab eingepreßt scheint.
Ich begreife das nicht; von dr체ben, also vom Kleinen H철rselberg, schallt etwas wie ein Signal, und als ich genauer hinzuh철ren versuche, wird es wiederholt. Es sind die ersten Takte des F-Dur-Fl철tenkonzerts von W.A.Mozart, das ich unl채ngst als Komponist f체r die Einleitungsmusik einer M채rcheninszenierung meiner Studentenb체hne verwendet habe. Wirklich steht dort dr체ben auch der wichtigste Musiker unserer kleinen Studentenb체hne; er winkt fr철hlich.
Jetzt habe ich verstanden; greife nach den an der Scheibe befestigten Griffen, lasse mich fallen. Das Seil bleibt straff gespannt, es wird ein Gleiten über ein abgrundtiefes Tal, ich bin jedoch völlig ohne Angst und jauchze und pfeife vor mich hin, ich bin glücklich während dieses Gleitens. Bis ich in den Nebel tauche. Bald bin ich durchnäßt und friere; jetzt fliege ich auch schon über eine weiße Mauer, die ich zuvor gar nicht gesehen habe und kann es nur knapp vermeiden, sie mit meinen Füßen zu streifen. Unter mir, der ich immer noch mit der rollenden Scheibe am Seil entlanggleite, gibt es jetzt Panzersperren, wie sie auf dem Grenzstreifen stehen. Hinter mir plötzlich Maschinengewehrschüsse, und etwas, was nur eine Kugel sein kann, streift mich am Ohr und reißt die Brille mit sich. Noch einmal eine weiße Mauer, ich muß die Knie anziehen, um über sie hinweggleiten zu können. Ein junges Mädchen mit langem schwarzem Haar hält das Ende des Seils in seinen Händen und fängt mich jetzt auf, und lacht, und hebt die Brille auf, die vor seinen Füßen liegt, und sagt mit einer dunklen, angenehmen Altstimme: "na, hat doch prima geklappt".
Ich stehe vor ihr und bin völlig fassungslos. "Ja, aber ...", sage ich; und da nimmt sie mich unter dem Arm, und Arm in Arm schlendern wir fort, und sie sagt nochmals: "das war eine ungeschickte Begrüßung. Soi de Theoi tosa doien  -  du kennst doch den Spruch noch, mit dem Odysseus Nausikaa näherzutreten versucht? - Damit hättest du beginnen müssen".
"Ja, nat체rlich!"
Und nun lache ich, und es sprudeln mir die altgriechischen Sätze, die ich längst vergessen glaubte, über die Lippen, aber ich verstehe den Sinn dessen, was ich offenbar sage, nicht mehr. Sie lacht dennoch und führt mich durch eine kahl wirkende Straße; deutlich eine Straße, durch die erst kürzlich der Krieg gezogen ist: teilweise Ruinen, viele Fenster ohne Scheiben, ab und an eine tote Katze, eine angekohlte Kinderpuppe, einmal ein menschlicher Torso ohne Kopf und ohne Arme. "Sieh nicht hin", verlangt sie, und ihr dunkles Haar weht vor meiner Brille. "Ich heiße Nausikaa".
"Und die K철nigstochter l채uft durch eine tote Stadt?"
"Die Königstochter hat dich nicht geholt, um zu erfahren, daß sie in einer toten Stadt lebt", antwortet Nausikaa. Und der Griff ihrer Hand um mein Handgelenk wird unerwartet fest; und ich sehe auf ihrem Handrücken Narben, Verbrennungsnarben offenbar: weißliche Hautstränge, so daß man die normale Sehnenstruktur über dem Handrücken nicht mehr erkennt.
"Warum hast du mich dann geholt?" frage ich.
"Du sollst mich unterrichten, ich will Musik lernen", antwortet sie.
"Aber ich bin kein Musiker, ich kann dich nicht unterrichten."
"Dorothee hat es mir anders erzählt, und Dorothee hat mir gesagt, daß ich dich holen soll."
"Dorothee...", sage ich langsam, und pfeife durch die Z채hne. "Ist sie denn da?"
"Nein, sie hat angerufen", sagt Nausikaa und lenkt in einen Tordurchgang ein. Ich sehe ein Nummernschild oben: 40/41, und schüttle noch den Kopf, ich kann nicht verstehen, was die Hausnummer meiner ersten Studentenbude in dieser offensichtlich toten Straße soll  -  während wir, immer noch Arm in Arm, bereits drei Treppen hinaufsteigen und Nausikaa mit einem Dietrich die Tür zu einer Hochparterre-Wohnung öffnet. Offenbar ist das hier so, daß das Hochparterre drei Treppen hoch liegt, mich wundert das nicht. Man tritt sofort in ein Zimmer: ein Raum mit hohen, sogar überhohen Wänden, so daß die Decke nicht deutlich zu erkennen ist, aber da ist dann wieder der Nebel, durch den ich vorhin jauchzend und pfeifend geglitten bin. Die Wände sind tiefblau tapeziert, der Fußboden bedeckt mit einem weißen langfädigen Teppich. Es ist warm in dem Raum, der mir bekannt vorkommt mit seinem einen halbkreisförmigen Fenster, durch das man auf einen betonierten Hinterhof blickt. Möbel gibt es nicht, nur einen Schemel, an dem ein Cello lehnt, Noten liegen auf dem Schemel, und ringsum sind Notenblätter verstreut, und ich sehe erstaunt, daß diese Noten in meiner Handschrift verfaßt wurden. Es gibt die hellgrünen Hefte der Edition Peters, und jetzt sehe ich auch einen Notenständer, darauf lose, schwer erkennbare Notenblätter, und auf diesen Blättern eine rötliche Flöte. Eine Heinrich, das weiß ich sofort.
"Du schwitzt", sagt Nausikaa, und fährt mir mit dem Handrücken über die Stirn. Sie trägt einen Overall aus weichem Leder, und obwohl sie mir die Brille noch nicht wiedergegeben hat, sehe ich, daß diese Hand nicht verbrannt ist.
"Gib mir meine Brille  -  bitte".
"Nimm das Cello, dann wirst du sehen".
Da ich nicht zu widersprechen wage, nehme ich das Cello, aber es gibt keinen Bogen. Ich muß mir die Augen reiben, mehrfach, um zu erkennen, daß das ja gar keine Flöte ist, was da auf dem Notenständer liegt, sondern ein Bogen. Jetzt allerdings trägt Nausikaa einen Sari, und sie sieht zum Fenster hinaus, dessen Form sich endlich verändert hat. Es ist jetzt ein Kastenfenster, links unten gibt es ein paar deutlich abgesetzte runde Bleiglasscheiben. Mir fällt es jedoch schwer, den Cello-Bogen vom Notenständer zu lösen, es bedarf einer unglaublichen Anstrengung, und der Griff brennt höllisch in meiner Hand. Aber dann wippt er doch nach oben und gleichzeitig nach vorn und durchstößt einen der runden Bleiglasrahmen.
"Was willst du nur immer mit dieser Brille", sagt Nausikaa.
Ich versuche zu scherzen:"Damit ich dich besser sehen kann".
"Die Königstochter will nicht besser gesehen werden", sagt sie, und lacht, und jetzt klingt ihr Lachen unangenehm, blechern, und sie steht auch nicht mehr im Zimmer, sondern sie schwebt draußen, vor den Butzenscheiben. Ich sehe auch, jetzt erst, daß das, was ich vorhin für einen Notenständer gehalten habe, gar kein Notenständer ist, sondern eine Leiter. Sie ist sehr hoch und reicht bis unter die Zimmerdecke, wo es ja immer noch diesen Nebel gibt. Da es zu dämmern beginnt, weiß ich, daß ich diese Leiter emporklimmen muß, höher und höher und höher. Nur werden die anfangs breiten Sprossen immer schmaler, sind schließlich, wenn ich sie mit der Hand erfasse und mich daran hochzuziehen versuche, sind sie nur noch so stark wie Cellosaiten. Immerhin tönen sie, wenn ich sie berühre. Es könnte wiederum F-Dur sein, nur bin ich dessen nicht sicher.

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